Dienstag, 23. Juni 2009

Nachdenken über Bangladesch II


Die Dinge negativ zu sehen und sich wünschen zukünftig woanders zu sein, fällt in Bangladesch scheinbar leicht. Diese Einstellung ist ärgerlich und wenig zielführend, gleichzeitig aber oft zu vernehmen von Leuten, die hier arbeiten (auch ich bin freilich nicht frei davon). Trotz seiner immensen Probleme ist das Land friedlich und stabil, im Gegensatz zu einer ganzen Reihe anderer Staaten in der Welt mit geringeren Bevölkerungsdichten und günstigeren natürlichen Ausgangsbedingungen (keine Überflutungen, Tsunamis, Wirbelstürme, Erdbebengefahr).

Statt zu sich mokieren, was in Bangladesch alles verkehrt läuft (worüber zweifellos der eine oder andere Abend vergeht), stellt sich mir die Frage, was die Welt von Bangladesch lernen kann. Die Zukunft passiert gleichzeitig und überall, eben auch im Land der Bengalen. Was hier nicht greift, sind traditionelle Fortschrittsüberlegungen: ohne dass in den Dörfern jemals Festnetztelefone existiert hätten, sind die Bangladeschis längst alle mobil vernetzt. Bengalische Manpower baut moderne 16-Geschosser ohne Kran, dafür mit Bambusgerüsten, in die Höhe. Die Mechanisierung von Industrie und Landwirtschaft würde Millionen Arbeitsplätze kosten, was bei steigenden Bevölkerungszahlen (die sicher sind) zu erheblichen sozialen Spannungen führen dürfte. Umweltfreundlich, weil energieeffizient und ressourcenschonend ist massenhafte Handarbeit allemal. Das gleiche gilt für Rikschas im Vergleich zu Mopeds oder Autos. Für Massenkonsum wiederum nicht. Wenn es ein Land gibt, das gar keine Alternative hat zu einer ökologischen (eben nicht industriellen) wie sozialen Marktwirtschaft hat, dann ist es Bangladesch.

Die Faktoren (Urbanisierung, Bevölkerungswachstum, Wasser, Klima), die die Zukunft des Landes bestimmen, erscheinen mir eher dynamisch, denn zwangsläufig bedrohlich. Ein gewisses Maß an Kreativität ist allen Menschen eigen, umso mehr, wenn Überlebensstrategien gefragt sind. Das lehren die Slums. Not macht erfinderisch, sagt man. Existenzielle Not bringt geniale Einfälle, hofft man. Ist diese Kreativität auch kollektiv existent, wenn es um das Überleben eines Volkes geht? . Ihr kulturelles Überleben haben die Bangladeschis den Pakistanern zum Preis von drei bis vier Millionen Toten und der Totalzerstörung der Infrastruktur abgerungen. Bangladesch hat Anfang der Siebziger mit nichts angefangen und existiert noch immer, obgleich die Probleme niemals kleiner wurden und selbst gestandene Analysten der Außenpolitik keine Zukunft für das Land sahen. Wichtige Kennzahlen in Gesundheit (Mütter- und Kindersterblichkeit etwa) und Ernährung verbessern sich seither stetig. Von einem Wunder zu sprechen, angesichts der furchtbaren Übermenschung einiger Orte in Bangladesch, wäre unangemessen. Ein bisher noch stabiles, wenn auch nicht geplantes, Sozialexperiment ist Dhaka aber allemal. Im Vergleich zu Städten wie Rio de Janeiro, Kapstadt oder Lagos kommen die Menschen hier erstaunlich gut miteinander aus.

Die Armut der Städte beurteilt man als Besucher aus Europa undifferenzierter, als diejenigen Bangladeschis, die ihren Lebensstandard mit dem Umzug vom Land in die Stadt von „null“ auf „null plus x“ aufgewertet und vielleicht den Aufstieg von "hardcore poor" (das Überleben steht jeden Tag auf der Kippe) in die Gruppe der "moderate poor" (Unterkunft, Essen, Wasser, Strom sind soweit gesichert) geschafft haben. Geschenkt wurden ihnen das nicht. Mit unendlicher Geduld betteln sich die Behinderten ihr Tagbrot zusammen, unendliche Ausdauer sichert den Rikscha-Fahrern und Textilarbeiter/innen und deren/ihren Familien ihr Einkommen, unendlich die, über Jahrzehnte gezwungenermaßen erlernte, Opferbereitschaft. Warum sollte das Land keine Chance haben die Herausforderungen von morgen zu meistern?

Lösungen werden hier gefunden werden, auch wenn der Preis hoch sein wird; Lösungen, die anderswo in der Welt Anwendung finden werden.

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